13. Juni 2025 von Frank Seifert
Strommarktliberalisierung: ja oder nein? Welche IT-Investitionen jetzt Sinn machen
Der Bundesrat hat am 14.05. über das geplante Stromabkommen als Teil der EU-Verträge informiert. Dieses betrifft die Umsetzung der Strommarktöffnung für alle Endverbraucher:innen, die Grundversorgung sowie den Konsumentenschutz.
Was heisst das für Schweizer Energieversorger? Unsicherheit, denn die finale Entscheidung fällt sehr wahrscheinlich an der Urne. Welche Auswirkung hat diese Unsicherheit auf die IT? Eine Grosse, denn IT-Projekte für die Liberalisierung lassen sich nicht von heute auf morgen umsetzen. Der Druck ist demzufolge hoch, die IT-Roadmap und damit verbundene Investitionsentscheidungen bereits jetzt zu analysieren, abzuwägen und festzulegen. In diesem Blogpost untersuche ich, welche Investitionen unabhängig vom Ergebnis an der Urne Sinn ergeben.
Unsere Lebensqualität in der Schweiz wird ganz entscheidend von einer immer verfügbaren und bezahlbaren Stromversorgung beeinflusst. Ereignisse, wie der weitreichende Blackout in Spanien und Portugal Ende April dieses Jahres zeigen, wie sensibel Netze sind und welche Auswirkungen bereits kurze, aber massive Stromausfälle auf ein Land haben können.
Die Entscheidungsträger:innen der Energieversorgungsunternehmen sind gefordert. Bereits heute haben sie viele Herausforderungen: Versorgungssicherheit gewährleisten, Ausrichtung auf Netto-Null-Klimaziele verbunden mit dem Ausbau umweltfreundlicher Stromproduktion und der Systemintegration dezentraler Energiequellen und Stärkung der Energieeffizienz. Und jetzt noch eine Liberalisierung des Marktes? Eines ist bei all diesen stark regulierten Aktionsfeldern klar: die Komplexität nimmt zu und wird ausschliesslich über leistungsfähige digitale Lösungen zu beherrschen sein. Stellt sich nur die Frage: In welche Bereiche muss investiert werden und wann ist der richtige Zeitpunkt?
IT-Investitionsbedarf
Wir begleiten schon lange Energieversorgungsunternehmen in Deutschland – darum kennen wir die Herausforderungen, die mit der Liberalisierung verbunden sind. Unserer Erfahrung nach müssen Energieversorgungsunternehmen in folgende fünf Bereiche bevorzugt investieren:
1. Modernisierung der IT- und Dateninfrastruktur
- Bewerkstelligung des Smart Meter Rollouts: Smart Meter sind die Grundlage für dynamische Tarife, Verbrauchsoptimierung und Flexibilitätsmärkte; ihr flächendeckender Ausbau und die anschliessende Bewirtschaftung sind deshalb prioritär
- Datenplattformen & Interoperabilität: Aufbau einer modernen Datenlandschaft, welche sowohl als „Datendrehscheibe” fungieren kann, als auch fachliche Use Cases abdeckt, wie die Abrechnung von Herkunftsnachweisen oder die Flexibilitätsvermarktung
- Informationssicherheitsgesetz: Umsetzung der neuen gesetzlichen Mindestanforderungen an die Informationssicherheit (ISG, StromVV Art. 5a)
2. Digitalisierung der Marktprozesse und Kundeninteraktion
- Kundenportale & Self-Service: Für Tarifwahl, Herkunftsnachweise und spätere Wechselprozesse
- Digitale Abrechnung & Vertragsmanagement: Für strukturierte Beschaffung, PPAs und dynamische Tarife
- Integration von Drittanbietern: z. B. für virtuelle Kraftwerke und Aggregatoren
3. Flexibilitätsmanagement und Netzoptimierung
- Dynamische Netztarife & Einspeisetarife: Einführung und Abbildung dieser Tarife seitens IT zur Steuerung von Lasten und Einspeisung
- Flexibilitätsmärkte & virtuelle Kraftwerke: Aufbau von Plattformen zur Vermarktung von Flexibilität (z. B. Speicher, E-Mobilität, Wärmepumpen)
- Lastmanagement & Peak Shaving: Integration in Netzplanung und Betrieb
4. Regulatorische Anforderungen und Transparenz
- Trennung von Grund- und Marktversorgung: Abbildung getrennter Portfolios und strukturierter Beschaffung seitens IT
- Tariftransparenz & Kommunikation: Kund:innen müssen Preisänderungen nachvollziehen können
5. Kooperation und Skaleneffekte
- Einkaufspools & Plattformen: Für kleinere EVU zur gemeinsamen Beschaffung und IT-Nutzung
- Outsourcing von Spezialfunktionen: z. B. Datenmanagement, SDL-Vermarktung oder Abrechnung
- Standardisierung & API-First-Ansätze: Zur Integration von Partner:innen und Systemen
Erkenntnisse aus der Liberalisierung in der deutschen Energiewirtschaft
Mit Novellen im deutschen Energiewirtschaftsgesetz EnWG wurde 1998 zunächst das buchhalterische Unbundling eingeführt, also die Trennung von Netz, Vertrieb und Erzeugung. 2005 folgte dann das gesellschaftsrechtliche, das organisatorische und das informatorische Unbundling. Dazu mussten historisch gewachsene, vertikal integrierte Strukturen aufgebrochen werden.
Vor allem beim informatorischen Unbundling war die saubere Trennung von Daten und Informationsflüssen, insbesondere sensibler Netzdaten von Vertriebs- und Erzeugungsinteressen die Kernaufgabe. Monolithische IT-Systeme mussten aufwendig angepasst oder durch neue, getrennte Lösungen ersetzt werden. Dies erforderte nicht nur technische Umbauten, sondern auch eine Änderung der Unternehmenskultur und die Etablierung neuer, formaler Kommunikationsprozesse zur Gewährleistung der Gleichbehandlung aller Marktteilnehmer:innen.
Als hilfreich erwies sich die frühzeitige, konsequente Planung in interdisziplinären Teams in Kombination mit einem umfangreichen Change Management und guter interner Kommunikation, um Mitarbeitende auf diesem Weg mitzunehmen und Akzeptanz zu schaffen.
Konsequenzen und Erkenntnisse für die IT aus den Unbundling-Umstellungen:
1. Geburt der prozessorientierten und serviceorientierten IT-Architektur: mit klar definierten Schnittstellen und einer stärkeren Ausrichtung auf modulare Systeme und Service-orientierte Architekturen (SOA). Dies ermöglichte es, Services sowohl internen (getrennten) Bereichen als auch externen Marktteilnehmer:innen diskriminierungsfrei anzubieten.
2. Massiver Bedeutungszuwachs von Datenmanagement und Datensicherheit: Die strikte Trennung von Netz- und Vertriebsdaten rückte das Datenmanagement ins Zentrum. Es mussten Governance-Strukturen für Daten geschaffen, Zugriffsrechte präzise definiert und Mechanismen zur Verhinderung unberechtigter Datenflüsse (Chinese Walls) implementiert werden. Informationssicherheit und Datenschutz (später DSGVO) gewannen enorm an Bedeutung.
3. Standardisierung und Interoperabilität: Um den diskriminierungsfreien Datenaustausch mit allen Marktteilnehmer:innen zu gewährleisten, wurde die Standardisierung von Datenformaten und Kommunikationsprotokollen unerlässlich, z.B. EDIFACT, später zunehmend webbasierte Dienste. Die IT musste Interoperabilität sicherstellen.
4. Notwendigkeit agilerer IT-Entwicklung und -Anpassung: Die sich häufig ändernden regulatorischen Anforderungen verlangten von der IT eine höhere Flexibilität und schnellere Anpassungszyklen. Agile Methoden gewannen an Bedeutung, um zeitnah auf neue Vorgaben reagieren zu können.
5. Kosten und Komplexität als Treiber für Outsourcing und Cloud-Strategien: Die hohen initialen und laufenden Kosten für den Betrieb getrennter IT-Systeme, sowie die steigende Komplexität haben dazu geführt, dass Energieversorgungsunternehmen verstärkt über Outsourcing-Modelle nachdachten und später die Nutzung von Cloud-Diensten in Betracht zogen, um Skaleneffekte zu nutzen und die Flexibilität zu erhöhen – immer unter strenger Beachtung der Sicherheits- und Compliance-Anforderungen.
Die Fähigkeit, Daten sicher, getrennt und standardisiert zu managen, wurde zu einer Kernkompetenz.
Erster Schritt: Klein aber mit grosser Tragweite
Mit Blick auf den Investitionsbedarf wird klar, dass wir hier von einem hohen Investitionsvolumen sprechen, wobei die einzelnen Komponenten zum Teil grosse Abhängigkeiten voneinander aufweisen. Die Grundvoraussetzung, um bei diesen Anforderungen die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist eine transparente Sicht auf die aktuelle gesamtheitliche digitale Landschaft der Organisation, von den Prozessen bis hin zu den IT-Systemen. Enterprise Architecture Management – kurz EAM – wird dies in Fachkreisen genannt. EAM hat sich in der Praxis bestens bewährt und Unternehmen durchleuchten ihre digitale Landschaft vermehrt mit diesem Ansatz.
Mit einem strukturierten Ansatz bestehend aus 4 Phasen wird deutlich, wie die aktuelle Enterprise Architecture aussieht, welchen Geschäftsbezug die Elemente haben, welche Daten wo entstehen und wie Verantwortlichkeiten geregelt sind. Aus unserer Erfahrung ist diese Grundlage bei vielen Unternehmen nicht gegeben. Die Investition in diesen ersten Schritt ist aber die Voraussetzung für eine aktive Steuerung und effiziente Umsetzung aller nachfolgenden Massnahmen. So wird sichergestellt, dass die Investitionen richtig allokiert werden und das Risiko klein bleibt.
Prioritäten richtig setzen
Die höchste Priorität haben die Investitionen in die Fachapplikationen der IT und in deren darunterliegende Dateninfrastruktur. Dies ergibt sich insbesondere aus gesetzlichen und regulatorischen Vorgaben (Fristen beachten!). Zusätzlich sind die Datenplattformen notwendig für das Management der Herkunftsnachweise, der korrekten Abrechnung und der Abwicklung von PPAs und später für die Skalierung der Kundenwechselprozesse.
Parallel dazu, oder spätestens im Anschluss sollten alle Marktprozesse und Kundeninteraktionen digitalisiert werden. Dazu gehören insbesondere Kundenportale mit Self-Service-Funktionen (keine Self-Admin-Funktionen – wer administriert sich schon gerne selbst?), digitale Abrechnung & Vertragsmanagement, sowie die Integration von Drittanbietern (z.B. PV, Speicher und E-Mobilität, falls nicht im eigenen Portfolio).
Die Investitionen in Flexibilitätsmanagement und Netzoptimierungen bewerten wir mit mittelhoher Priorität. Diese Massnahmen helfen dabei, Netzausbaukosten zu begrenzen und neue Geschäftsmodelle zu erschliessen. Natürlich ist in diesem Zusammenhang zu prüfen, ob die Leistungsfähigkeit der Netze unter Berücksichtigung des Zubaus eine „Wartezeit” verträgt.
In diesen Bereich klassifizieren wir die Einführung dynamischer Netztarife (ehemals Pilot –sofern die Grundlagen vorhanden sind), flexible Einspeisetarife für PV-Anlagen, Lastmanagement für E-Mobilität und Wärmepumpen (Peak Shaving) und die Vorbereitung für Flexibilitätsmärkte.
Neue Möglichkeiten im Auge behalten
Daten und KI sind auch in diesem Themenfeld nicht ausser Acht zu lassen. Wenn eines sicher ist, dann, dass immer mehr Daten zur Verfügung stehen werden aufgrund des Umbaus der Stromproduktion zu einer dezentralen Versorgung, der Elektrifizierung von Bereichen wie Mobilität und Heizung, der Entwicklung neuer Speichermöglichkeiten und der Vernetzung dieser Systeme.
Somit wird der Bedarf wachsen, diese Daten wertstiftend einzusetzen und für unterschiedlichste Zwecke zu verwenden. Hier macht es sicher Sinn, die Architektur vom Ende aus zu denken: welche Bedeutung haben Daten und KI für mein zukünftiges Geschäftsmodell? Welche Use Cases lassen sich pragmatisch implementieren und auf ihren Wertbeitrag testen?
Integration von Anfang an: Business Continuity Management (BCM) und IT-Service Continuity Management (ITSCM)
Der Ausbau der IT-Intrastruktur stellt neue Anforderungen an den Betrieb. Sicherheit ist das, woran wir hier als erstes denken. Die Anforderungen an den Betrieb kritischer Infrastrukturen ist hier immer zu berücksichtigen. Im Schatten der Sicherheit steht leider allzu häufig BCM und ITSCM.
Die Ereignisse in Spanien und Portugal zeigen die Problematik auf: Wie stelle ich die Versorgungssicherheit bei Störungen und technischen Ausfällen sicher? BCM umfasst die Planung, Vorbereitung und das Management von Massnahmen, um den Betrieb auch in Krisensituationen aufrechtzuerhalten oder schnell wiederherzustellen. ITSCM ist ein Teilbereich des BCM und fokussiert sich auf die Wiederherstellung kritischer IT-Services. Dazu gehören die Absicherung zentraler IT-Systeme, Redundanz- und Backup-Strategien, Notfallpläne und Wiederanlaufverfahren. Werden diese beiden Kompetenzen von Anfang an mitgedacht und aufgebaut, ergibt sich ein erweiterter Investitionsschutz.
Fazit
Die Liberalisierung des Strommarkts bringt Unsicherheiten mit sich. Doch Investitionen in IT-Infrastruktur, Datenplattformen und Kundenprozesse lohnen sich, unabhängig vom Ausgang. Energieversorgungsunternehmen müssen jetzt handeln: Eine Enterprise Architektur etablieren, regulatorische Anforderungen erfüllen und digitale Innovationen nutzen. Die notwendigen Hausaufgaben – insbesondere in der Datenbereinigung – sollten spätestens jetzt abgeschlossen werden, denn die Umsetzung der nächsten Schritte benötigt ebenfalls Zeit. Wer jetzt klug investiert, sichert sich entscheidende Wettbewerbsvorteile und bleibt zukunftsfähig. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, die Weichen zu stellen.