Menschen von oben fotografiert, die an einem Tisch sitzen.

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Und hier kollidiert die Philosophie der kontinuierlichen Verbesserung mit einem Modell, das auf einem Weg ins Change-Management geraten ist, den mir bisher niemand erklären konnte. Ich meine die Kübler-Ross-Kurve, benannt nach Elisabeth Kübler-Ross, einer Psychiaterin, die sich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts damit beschäftigte, mit welchen Emotionen Menschen der Tatsache begegnen, dass sie unheilbar krank sind und bald sterben werden.

Change-Management für Tote

Kübler-Ross beschreibt in ihrem Modell fünf Phasen von Emotionen: Verleugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz. Aus diesem Modell ist der unten stehende Graph entstanden, der den Versuch unternimmt, diese Emotionen abzubilden.

Neben etlichen Adaptionen in andere Bereiche der Psychologie wurde das Kübler-Ross-Modell immer wieder kritisiert. Ein wesentlicher Punkt in diesen Kritiken ist ein Mangel an wissenschaftlich prüfbaren Belegen. Aber das hielt die Wirtschaft noch nie davon ab, etwas zu adaptieren, und so hielt die Kübler-Ross-Kurve Einzug im Change Management.

Um diese Absurdität deutlich zu machen: Ein als zu wenig wissenschaftlich kritisiertes Modell, das das emotionale Erleben von Menschen beschreibt, die dem Tode geweiht sind, wird als Grundlage für Veränderungen in Organisationen benutzt, die diese Organisationen fit für eine positive Zukunft machen sollen. Das kann den kontinuierlichen Verbesserer schon für einen kurzen Moment innehalten lassen und zum Nachdenken anregen.

Interessanterweise hat sich diese Kurve aber so massiv in den Köpfen festgesetzt, dass, sobald ein Hauch von Veränderung spürbar wird, sofort die Frage auftaucht, ob denn auch die Verschlechterung eingepreist sei. Dabei beschreibt das Modell keine negative Veränderung. Die nach unten führende Linie beschreibt den emotionalen Zustand von Menschen, aber nicht die Auswirkung der Veränderung auf die Organisation. Erfahrene Change-Management-Trainer lösen dieses Problem durch eine Neubeschriftung der Y-Achse. Das trägt aber nicht dazu bei, dass das Modell wissenschaftlicher oder korrekter wird.

Change-Management Hormesis

Natürlich sind die meisten Menschen eher veränderungsunwillig. Die individuelle Veränderungsbereitschaft hat aber viel damit zu tun, wie Veränderung in einer Organisation praktiziert wird. Veränderung von oben wirkt häufig nicht glaubwürdig, Veränderung von außen ist unangenehm. Teams, die sich aus sich selbst heraus verändern, gibt es in den wenigsten Organisationen. Das liegt aber nicht daran, dass dies prinzipiell nicht möglich wäre. Vielmehr verhindern die meisten Organisationen Veränderung von innen heraus systematisch durch ihre Prozesse. Veränderung wird blockiert und das führt dann garantiert zum Tod.

Agile Teams sollen sich selbst verändern, immer wieder aufs Neue. Damit das passieren kann, gibt es Rollen wie den ScrumMaster oder die Agile Coaches. Diese Menschen sind solche Typen, wie ich sie oben beschrieben habe: nimmermüde Verbesserer. Sie führen ihre Teams regelmäßig an Stellen, an denen die Veränderung unvermeidbar wird, aber immer positiv wahrgenommen wird. Das funktioniert, weil gute ScrumMaster und Agile Coaches instinktiv wissen, wie die Hormesis der Veränderung wirkt. Das kontinuierliche Verabreichen geringer Dosen von Veränderungen führt dazu, dass diese als normal erlebt werden. Auf diese Weise tritt nie Stillstand ein, und wenn doch einmal eine größere Veränderung ansteht, wird diese als weniger dramatisch wahrgenommen.

ScrumMaster oder Agile Coach zu sein bedeutet, die Größe von Veränderungen zu balancieren. Manchmal muss ein Team ein bisschen mehr motiviert werden, manchmal muss es auch gebremst werden, wenn es sich zu viel zumutet. Von der Veränderung als solcher muss das Team nicht überzeugt werden. Sind Daniel Pinks drei Grundpfeiler der Motivation vorhanden – Meisterschaft, Autonomie und Bestimmung – reichen diese zumeist schon aus.

Change-Management für Lebende

Change-Management an einem Modell auszurichten, das die Welt aus der Sicht von Totgeweihten beschreibt, ist alles andere als eine gute Idee. Werft die Kübler-Ross-Kurve endlich aus dem Methodenkoffer: Change Management will positiv in Richtung Zukunft blicken. Lernt Change von ScrumMastern und Agile Coaches, statt sie mit Prozessen und kaputten Modellen zu quälen. Nutzt den Effekt der Hormesis vieler kleiner Veränderungen, statt große Top-Down-Konzepte zu basteln.

Das macht Organisationen lebensfähig für die Zukunft. Ich empfehle, darüber zu meditieren.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Kolumne „Meditations on Agile“ auf JAXenter.

Bild Gerrit Beine

Autor Gerrit Beine

Gerrit Beine ist Managing Consultant bei adesso. Seit 1998 unterstützt er Unternehmen in den Bereichen Software Architektur und Agile Methoden. Mit diesen Schwerpunkten ist er regelmäßig als Sprecher auf Konferenzen und hält Vorlesungen an verschiedenen Hochschulen. Er ist außerdem Autor der Kolumne "Meditations on Agile" und reflektiert über das Thema Agilität.

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