7. November 2025 von Severin Kälin
Requirements Engineering im Labor – Erfolgsfaktor LIS
Veraltete Laborinformationssysteme (LIS) bremsen Laborbetriebe: Parametrisierungen sind historisch gewachsen, Fachlogik steckt in Köpfen und Excel, Compliance-Anforderungen steigen. Ein reiner Systemtausch löst das nicht. Requirements Engineering (RE) sorgt dafür, dass das neue LIS die fachlichen Abläufe wirklich trägt – durch saubere Anforderungserhebung, verständliche Dokumentation, frühzeitige Validierung und strukturiertes Anforderungsmanagement. Die folgende fiktive Case Study zeigt, wie ein Schweizer Labor mit systematischem RE den LIS-Wechsel beschleunigt – und die digitale Transformation nachhaltig absichert.
Der fiktive Case: Labor Helvex AG (Schweiz)
Als die Labor Helvex AG im Frühjahr 2023 ihr 20-jähriges Bestehen feierte, war die Stimmung zweigeteilt. Einerseits lief der Betrieb wie geschmiert: über 3000 Proben täglich, reibungslose Abläufe, ein engagiertes Team. Andererseits spürte man deutlich, dass das Herzstück – das alte Laborinformationssystem – in die Jahre gekommen war. Menüs wirkten wie aus einer anderen Zeit, Schnittstellen mussten manuell nachjustiert werden und viele Fachregeln existierten nur noch in Köpfen oder Excel-Dateien.
Der Entscheid, das LIS zu ersetzen, fiel schliesslich nicht aus Begeisterung für Neues, sondern aus schlichter Notwendigkeit. Der Hersteller hatte das Support-Ende angekündigt und jede Erweiterung fühlte sich an wie ein chirurgischer Eingriff am offenen System. Doch schon in den ersten Projektmeetings wurde klar: ein reiner Systemtausch würde nicht reichen. Wenn Helvex das Labor zukunftsfähig machen wollte, musste das neue LIS die Fachlogik, die Qualität und die Flexibilität des Betriebs tragen – und das ging nur mit systematischem Requirements Engineering.
So begann die Reise – nicht mit Code, sondern mit Fragen.
„Was machen wir heute eigentlich genau – und warum?“, fragte die RE-Analystin beim ersten Workshop.
Die Runde schwieg kurz, dann sprudelten Geschichten: von Reflex-Tests, die niemand mehr erklären konnte, von Workarounds, die aus einstigen Notlösungen zu stillen Standards geworden waren. Diese Workshops wurden zum Brennglas für das, was Requirements Engineering leisten kann: Verstehen, bevor man verändert.
Die erste Etappe: die Landkarte des Labors
In den ersten Wochen erarbeitete das Team eine Prozesslandkarte – kein starres Diagramm, sondern eine lebendige Erzählung des Laboralltags. Auf dieser „Landkarte“ fanden sich alle Stationen: vom Eintreffen der Probe über die Analyse bis zur Befundfreigabe. Dabei wurden unzählige kleine, aber entscheidende Regeln sichtbar – jene unsichtbaren Handgriffe, die ein Labor wirklich am Laufen halten.
Das Glossar, das daraus entstand, wurde zur gemeinsamen Sprache: Was heisst „kritischer Befund“? Wann gilt eine Probe als „vollständig“? Wie unterscheiden sich Routine- und Notfallanalysen? Diese scheinbar banalen Fragen entpuppten sich als Schlüssel zu einem klaren, geteilten Verständnis.
Die zweite Etappe: vom “Ist” zum “Soll”
Nachdem die Gegenwart kartiert war, wagte das Team den Blick nach vorn. In Interviews, Testszenarien und Validierungsrunden formte sich das Bild des neuen Systems.
Anstelle von Tabellen und starren Listen arbeitete Helvex mit Szenarien: kleine Geschichten aus dem Laboralltag.
„Stellen Sie sich vor, eine Probe wird fälschlicherweise doppelt registriert – wie müsste das neue System reagieren?“ Solche Fragen machten Anforderungen greifbar. Schritt für Schritt wurden Regeln explizit gemacht: Reflex-Tests, Plausibilisierungen, Freigabepfade.
Was früher als „Wissen der alten Hasen“ galt, fand nun Eingang in ein transparentes Regelwerk – nachvollziehbar, prüfbar, versionierbar.
Parallel dazu entstanden Prototypen. Auf grossen Bildschirmen klickten Biomedizinische Analytiker:innen durch simulierte Oberflächen, prüften Eingaben, testeten Abläufe. Das war kein abstraktes IT-Projekt mehr, sondern ein gemeinsamer Entdeckungsprozess.
Die dritte Etappe: validieren, absichern, lernen
Je näher der Go-Live rückte, desto konkreter wurden die Prüfungen. Die Anforderungen, die zu Beginn noch Worte auf Papier waren, wurden zu Kriterien im Testsystem. Jeder Use Case hatte nun sein „Done“ – überprüfbar, messbar, dokumentiert.
Ein Beispiel: Beim Reflex-Test auf einen bestimmten Erreger musste das System automatisch eine Zusatzanalyse auslösen, drei Prüfschritte dokumentieren und das Ergebnis innerhalb von zwei Minuten anzeigen. Solche Szenarien machten aus abstrakten Anforderungen reale Qualitätsgaranten.
Natürlich lief nicht alles reibungslos. Bei der Migration alter Stammdaten zeigte sich, dass manche Werte in zehn Jahren mehrfach überschrieben worden waren. Doch weil das RE-Team früh Datenqualität als eigenes Thema definiert hatte, war die Bereinigung Teil des Plans – kein Showstopper.
Das Ergebnis: ein Labor, das sein System versteht
Als das neue LIS schliesslich in Betrieb ging, war die Anspannung spürbar. Wochenlang hatte man simuliert, getestet, nachgeschärft. Und doch gab es diesen Moment, als die erste Probe im neuen System registriert wurde, eine Mischung aus Erleichterung und Stolz.
Die Resultate liessen nicht lange auf sich warten:
- Die Durchlaufzeiten für Routineanalysen sanken messbar
- Manuelle Korrekturen gingen um mehr als ein Drittel zurück
- Die Mitarbeitenden verstanden die Systemlogik – weil sie sie selbst mitentwickelt hatten
- Und das Qualitätsmanagement konnte auf Knopfdruck zeigen, welche Regel wann und von wem geändert wurde
Helvex hatte mehr erreicht als nur ein neues LIS.
Das Labor hatte gelernt, seine eigene Arbeitsweise zu reflektieren – und in Anforderungen zu übersetzen, die Technik und Fachlichkeit vereinen. Oder, wie es der Laborleiter später formulierte: „Wir haben nicht nur ein System eingeführt. Wir haben uns selbst besser verstanden.“
Fazit
Ein LIS zu ersetzen, heisst mehr als Software tauschen. Wer Anforderungen systematisch erhebt, klar dokumentiert, früh validiert und aktiv managt, reduziert Risiken, beschleunigt den Go-Live und verbessert nachhaltig Qualität und Änderbarkeit. Der fiktive Case der Labor Helvex AG zeigt: Requirements Engineering ist der Hebel, um Fachlogik, Compliance und Betriebssicherheit im neuen LIS zusammenzubringen – und damit die digitale Transformation im Labor zu tragen.
Wie gehen Sie in Ihrem Labor mit Regelwerken, Parametrisierung und Schnittstellen um? Welche Erfahrungen haben Sie beim LIS-Wechsel gemacht? Lassen Sie uns diskutieren – und kontaktieren Sie uns, wenn Sie Sparring zu Anforderungen, Validierung oder Anforderungsmanagement wünschen.