21. Juli 2023 von Wolfgang Weber
Netzentgelte Gas – Quo Vadis?
Die Netzentgelt-Systematik von Strom- und Gasnetzbetreibern in Deutschland
Netzentgelte, früher und auch heute noch vereinzelt als Netznutzungsentgelte bezeichnet, sind eine Art Miete, die der jeweilige Netzbetreiber für die Nutzung seines Netzes verlangt, durch das Strom oder Gas transportiert wird. Gedeckt werden damit die Kosten für Bau, Betrieb und Instandhaltung sowie Erneuerung des Netzes.
Da Strom- und Gasnetze sogenannte natürliche Monopole darstellen, sind sie in Deutschland reguliert. Für die größeren Netzbetreiber ist die Bundesnetzagentur (BNetzA) in Bonn zuständig, für die kleineren in der Regel die Regulierungsbehörde des jeweiligen Bundeslandes. Die Regulierungsbehörden sind unter anderem für die Genehmigung der Netzkosten zuständig.
In der seit 2009 gültigen Anreizregulierung funktioniert das stark vereinfacht so:
Nach dem sogenannten Basis- oder Fotojahr (nächstes für Gas: 2025, für Strom: 2026) der aktuellen jeweils fünfjährigen Regulierungsperiode meldet der Netzbetreiber seinen Aufwand und seine Investitionen des Basisjahres (und teilweise auch der Vorjahre) der zuständigen Regulierungsbehörde. Diese erkennt einen Teil an, meist einen größeren Teil auch nicht. Vom anerkannten Teil wird wiederum in einem sehr komplexen Benchmark-Prozess noch ein Teil auf Effizienz geprüft. Nach Ende des Prüfungsprozesses erhält der jeweils betroffene Netzbetreiber einen Bescheid, welche Erlöse er in der jeweiligen nächsten Regulierungsperiode (wiederum fünf Jahre) vereinnahmen darf. Dieser mehrjährige Erlöspfad nennt sich Erlösobergrenze (EOG).
Von der Erlösobergrenze zu Netzentgelten
Nachdem der Netzbetreiber nach dem Basisjahr den Bescheid mit seiner EOG bekommen hat, prognostiziert er auf Basis von historischen Daten wie auch auf Zukunftserwartungen Absatzmengen in Kilowattstunden (kWh) für verschiedene Kundengruppen. Außerdem muss er seine jährlichen Gesamterlöse verursachungsgerecht auf alle von ihm betriebenen Netzebenen beziehungsweise Druckstufen aufteilen.
Die Division des Erlösanteils durch die Absatzmenge ergibt dann die Netzentgelte in Cent pro kWh je Kundengruppe (für Großabnehmer gibt es noch einen Leistungspreis, der von der Lastspitze abhängt). Natürlich wird es dem Netzbetreiber nie gelingen, die zukünftigen Absatzmengen für alle Kundengruppen exakt vorherzusagen, mal wird er insgesamt mehr als erlaubt einnehmen, mal weniger. Im Nachhinein wird daher die Prognose jeweils mit den Ist-Werten abgeglichen, die Differenz wird über das sogenannte Regulierungskonto ausgeglichen und beeinflusst die zukünftigen Netzentgelte.
Anteile der Netzentgelte am Gaspreis
Bei Gasnetzen lag der Anteil der Netzentgelte am Endkundenpreis über viele Jahre bis Ende 2021 bei ungefähr einem Viertel. Mit den stark gestiegenen Beschaffungskosten von Gas seit 2022 ist der relative Anteil der Netzentgelte gesunken, auch wenn der absolute Betrag sogar gestiegen ist:
Im April 2023 lagen die durchschnittlichen Kostenbestandteile für EFH bei 13,78 Cent pro kWh für Beschaffung und Vertrieb, 1,99 Cent pro kWh für Netzentgelte und 2,38 Cent pro kWh für Steuern und Abgaben. In Summe also 18,15 Cent pro kWh.
Zum Vergleich: Anfang 2021 lagen die Kostenbestandteile bei 2,46 Cent pro kWh für Beschaffung und Vertrieb, 1,64 Cent pro kWh für Netzentgelte und 2,01 Cent pro kWh für Steuern und Abgaben. In Summe waren das 6,11 Cent pro kWh.
Auswirkungen des rückläufigen Gasverbrauchs und kürzerer Abschreibungsdauern
Für die Prognose der weiteren Entwicklung der Gasnetzentgelte sind aus meiner Sicht vor allem zwei Effekte wesentliche Treiber:
1) Rückläufiger Gasverbrauch
Seit Jahren schon sind die spezifischen wie auch die absoluten Gasverbräuche bei Endkundinnen und -kunden rückläufig. Dies hat viele Gründe, unter anderem:
- Neubauten haben aufgrund der stetig schärferen Bestimmungen der Energieeinsparverordnung (EnEV) und des Gebäudeenergiegesetzes (GEG) inzwischen nur noch sehr geringe Heizbedarfe.
- Viele Neubaugebiete werden aufgrund der potenziell geringen Absatzmengen auch gar nicht mehr mit Gas erschlossen.
- Bestandsgebäude werden zunehmend saniert, der Heizbedarf sinkt damit.
- In Bestandsgebäuden wird die Heizung aufgrund des hohen Gaspreises und der steigenden CO2-Bepreisung des fossilen Energieträgers Gas auf andere Energieträger umgestellt, etwa auf Strom in Form von Wärmepumpen.
Das Forschungsprojekt Ariadne ist für sein „Referenzszenario Technologiemix“ zu folgenden Prognosen bis 2045 gekommen:
Wie anfangs beschrieben ergeben sich die Netzentgelte vereinfacht als Division der genehmigten Erlöse durch den Verbrauch. Bei sinkendem Verbrauch bleiben die Netzkosten aber ungefähr gleich, da es in Gasnetzen nahezu keine variablen Kosten gibt. Daher müssen die Netzentgelte ceteris paribus (unter sonst gleichen Bedingungen) in gleichem Maße steigen, wie der Verbrauch sinkt.
2) Kürzere Abschreibungsdauern
Für die nächste Überlegung kommen wir noch mal zur Kostenprüfung zurück. Die genehmigte Erlösobergrenze setzt sich aus zwei Kostenblöcken zusammen:
- OPEX (eigener und fremder Aufwand, Netzentgelte des vorgelagerten Netzbetreibers, etc.)
- CAPEX (noch nicht abgeschriebene Investitionen)
Die CAPEX wiederum setzen sich aus den kalkulatorischen Abschreibungen und der Eigenkapitalverzinsung auf die kalkulatorischen Restwerte zusammen.
Beides bezieht sich auf das sogenannte betriebsnotwendige Sachanlagevermögen des Netzbetreibers.
Die für die kalkulatorische Abschreibung maßgeblichen Nutzungsdauern sind in der Anlage 1 der Strom- beziehungsweise Gasnetzentgeltverordnung (StromNEV beziehungsweise GasNEV) festgelegt und betragen für die wichtigsten und werthaltigsten Assets in Gasnetzen – Leitungen aus Stahl oder PE – 45 bis 55 Jahre. Netzbetreiber nutzen meist die untere Grenze, für diese Leitungstypen also 45 Jahre. In jedem Jahr der kalkulatorischen Nutzungsdauer geht daher 1/45 der Anfangsinvestition in die Kosten und damit auch in die Erlösobergrenze ein.
Da sich Deutschland zum Ziel gesetzt hat, im Jahr 2045 klimaneutral zu sein, und sich das schwer mit dem Betrieb von Erdgasnetzen in Einklang bringen lässt, haben Gasnetzbetreiber kritisiert, dass zu einer Stilllegung von Teilen der Gasnetze bis 2045 Abschreibungsdauern von weiterhin 45 Jahren nicht mehr passen und betriebswirtschaftlich ein viel zu hohes Risiko bei neuen Investitionen darstellen („stranded investments“).
Die Bundesnetzagentur hat darauf reagiert: Die für Gasnetzentgelte zuständige Beschlusskammer 9 (BK9) hat Ende 2022 eine Festlegung zur Anpassung von kalkulatorischen Nutzungsdauern von Erdgasleitungsinfrastruktur („KANU“) beschlossen und veröffentlicht. Abweichend von der bereits erwähnten Anlage 1 der GasNEV gibt es für neue Investition ins Gasnetz, die ab dem 1.1.2023 aktiviert werden, ein Wahlrecht zur Verkürzung der Nutzungsdauer, das die vollständige kalkulatorische Abschreibung bis 2045 gewährleistet. Investitionen ab 2023 können damit bis zum geplanten Gasausstieg 2045 über die Erlösobergrenze vollständig refinanziert werden.
Nehmen wir nun als Beispiel eine Stahlleitung, deren Bau eine Million Euro kostet und die jeweils 2022, 2023 oder 2030 gebaut sowie aktiviert wird:
- Bau 2022: kalkulatorische jährliche Abschreibung, die in die Erlösobergrenze bis 2066 eingeht: eine Million Euro / 45 = 22.222,22 Euro
- Bau 2023: kalkulatorische jährliche Abschreibung, die in die Erlösobergrenze bis 2045 eingeht: eine Million Euro / 23 = 43.478,26 Euro (23 Jahre kalkulatorische Nutzungsdauer)
- Bau 2030: kalkulatorische jährliche Abschreibung, die in die Erlösobergrenze bis 2045 eingeht: eine Million Euro / 16 = 62.500 Euro (16 Jahre kalkulatorische Nutzungsdauer)
Jede Investition ab 2023, für die die Option der verkürzten Nutzungsdauern gezogen wird, wird also deutlich stärker in die Kosten- und die Erlösseite eingehen als mit der bisherigen Abschreibungspraxis, und das Problem nimmt – wie oben zu sehen – in jedem Jahr für Neuinvestitionen zu.
Die Beschlusskammer schreibt selbst dazu sinngemäß und verkürzt: ungünstig für die Verbraucherinnen und Verbraucher, im gegenwärtigen System aber noch die beste aller Alternativen.
Die beiden erläuterten Effekte „rückläufiger Gasverbrauch“ und „kürzere Abschreibungsdauern“ führen also zu sukzessive steigenden Gasnetzentgelten. Der Anstieg nimmt auch weiter zu, je näher wir dem Jahr 2045 kommen werden.
Zwei weitere Effekte werden zusätzlich ebenfalls den Gaspreis verteuern: Zumindest für die nächsten Jahre wird der Effekt steigender Zinsen mittelfristig die Eigenkapitalzinssätze erhöhen, was ebenfalls die Netzentgelte erhöhen wird. Dazu kommt noch die von Deutschland wie auch von der EU vorgesehene und ansteigende CO2-Bepreisung von Erdgas:
€/t CO2 | 2021 | 2022 | 2023 | 2024 | 2025 | 2026 | ab 2027 |
Deutschland | 25 | 30 | 30 | 35 | 45 | 55–65 | - |
EU | - | - | - | - | - | - | Höhe noch unklar |
Erdgas mit einem Energieinhalt von einem kWh setzt bei der Verbrennung ca. 200 Gramm CO2 frei, bei einem durchschnittlichen Haushaltsverbrauch von 20.000 kWh/Jahr werden somit circa vier Tonnen CO2 pro Jahr ausgestoßen.
Das bereits erwähnte Ariadne-Projekt hat auch untersucht, wie hoch der CO2-Preis im Gebäudesektor sein müsste, um die Klimaziele für 2030 zu erreichen, und kommt auf 275 Euro pro Tonne. Dies allein würde Gas um ca. 5,5 Cent pro kWh verteuern.
Ceteris paribus wird damit der Gaspreis weiter steigen. Solange konkurrierende Wettbewerber wie die Wärmepumpe im Heizungsmarkt nicht in mindestens gleichem Maße teurer werden, nimmt damit der politisch gewollte Anreiz für Verbraucherinnen und Verbraucher stetig zu, von Gas wegzugehen. Dadurch nimmt der Gasverbrauch weiter ab, die Netzentgelte steigen weiter, ein Teufelskreis aus Sicht der Verbraucherinnen und Verbraucher ist gestartet und dreht sich immer schneller zuungunsten des Erdgases.
Mögliche Auswege, um den Teufelskreis zu stoppen oder zu verlangsamen
Derzeit sehe ich vor allem zwei mögliche Auswege, wie der Teufelskreis verlangsamt oder gestoppt werden kann:
1) Externe Zuschüsse, beispielsweise Subventionen – etwa durch den Bund
Diese Möglichkeit halte ich für recht unwahrscheinlich. Das heutige System der Netzentgeltbildung müsste dafür deutlich geändert werden, außerdem wären Summen im Milliardenbereich notwendig. Allerdings würde es für die letzten Nutzerinnen und Nutzer des Gasnetzes mit dem heutigen System absurd teuer, da wahrscheinlich nur noch geringen Verbräuchen immer noch sehr hohe Netzkosten gegenüberstünden und die Netzentgelte dadurch ins Astronomische steigen würden. Dafür ist noch keine Lösung gefunden, vermutlich werden dafür am Ende der Staat und/oder die Netzeigentümer in die Bresche springen müssen.
2) Umwidmung von Teilen der Gasnetze zu Wasserstoff-Netzen
Wenn die Gasnetze vollständig oder zu großen Teilen weiterhin genutzt werden könnten, würden kürzere Abschreibungsdauern unnötig, der oben beschriebene Effekt würde damit entfallen oder zumindest deutlich kleiner. Auf Basis heutiger Studien und Prognosen wird allerdings bis mindestens 2035 viel zu wenig grüner Wasserstoff zur Verfügung stehen und dieser zu teuer sein, um damit in der Fläche in Privathaushalten und im Kleingewerbe zu heizen oder diesen in größerem Stil für Mobilität zu nutzen.
Ein Damokles-Schwert, das auch noch über der möglichen Umwidmung schwebt, ist die von der EU-Kommission und dem EU-Energieministerrat geforderte sogenannte eigentumsrechtliche Trennung der Wasserstoff- und Gasnetze auf Verteilnetzebene. Noch ist dies nicht beschlossen, würde aber bedeuten, dass Verteilnetzbetreiber keine Gas- und Wasserstoff-Netze innerhalb einer Gesellschaft besitzen und betreiben dürfen. Jegliche Quersubventionierung für den Aufbau des Wasserstoffnetzes oder den Abbau des Gasnetzes wäre damit nahezu unmöglich für Verteilnetzbetreiber, auch würde der Parallelbetrieb durch zwei Gesellschaften teurer und ineffektiver.
Wahrscheinlich erscheint aus heutiger Sicht, dass zumindest große Teile der heutigen Fernleitungsnetze auf Wasserstoff umgestellt werden. Dies beträfe aber vermutlich nur ca. 10.000 der rund 500.000 km des gesamten heutigen deutschen Erdgasnetzes und würde damit den Effekt steigender Netzentgelte nur minimal bremsen.
Weiterhin ist auch vorstellbar, dass Teile des heute mit fossilem Erdgas betriebenen Netzes zukünftig mit reinem Biogas betrieben werden. Aber auch das wird maximal kleine Netzteile betreffen, der Mengenrückgang bliebe trotzdem als Problem bestehen.
Fazit
Die Analyse zeigt, dass die Gasnetzentgelte in Deutschland aufgrund zurückgehender Verbräuche, kürzerer Abschreibungsdauern für neue Leitungen sowie steigender Zinsen weiter stark steigen werden. Dazu kommt noch die steigende CO2-Bepreisung, was alles den Gaspreis in die Höhe treiben wird. Dies ist politisch gewollt, um die Energie- und Klimawende durch sinkende CO2-Emissionen voranzubringen.
Gasverbrauchende sollten sich daher auf weiter steigende Gaspreise einstellen und nach Möglichkeiten suchen, den eigenen Verbrauch zu minimieren, und sich zudem Alternativen zu Gas suchen. Gasnetzbetreiber sollten sich Gedanken über ihre langfristige Netzstrategie machen:
Was wird unter realistischen Annahmen tatsächlich noch für Wasserstoff-Netze gebraucht?
Was passiert im Rahmen der kommunalen Wärmeplanung (Gasnetze sind leider nicht für konventionelle Fern- oder Nahwärmenetze nutzbar, möglicherweise aber für kalte Nah- oder Fernwärmenetze)?
Hierfür sollten frühzeitig alle relevanten Daten erhoben und zum Beispiel mittels eines digitalen Netzzwillings („Digital Twin“) im Austausch mit allen Stakeholdern Szenarien durchgespielt, bewertet und deren Umsetzung vorbereitet werden.