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Lab 4.0 klingt wie eine technologische Utopie: vernetzte Geräte, automatisierte Arbeitsabläufe, Echtzeitdaten und sofortige Compliance. Das Ziel? Smartere Labore, die mitwachsen, sich anpassen, Auflagen durch Nutzung technologischer Anwendungen erfüllen, Reibungsverluste so reduzieren und die wissenschaftliche Arbeit erleichtern.

Doch in der echten Welt verlaufen Digitalisierungsprojekte selten reibungslos. Im Tagesgeschäft der Life Science-Labore kollidieren solche Ambitionen oft mit veralteten Prozessen, manueller Arbeit und Validierungsdruck.

In diesem Blogartikel werden wir untersuchen, inwiefern Lab 4.0 mehr als nur ein technisches Upgrade ist - und wie Life Science-Organisationen ihre Ideen in die Tat umsetzen können.

Spoiler: Es fängt nicht bei den Tools an. Es fängt damit an, zu verstehen, wie die Dinge heute wirklich funktionieren.

Lab 4.0 - was ​​hinter den Buzzwords steckt

Bei Lab 4.0 geht es nicht nur um Technologie, es geht darum, die Arbeitsweise von Laboren in einer vernetzten, datengesteuerten Welt zu überdenken. Im Kern signalisiert es eine Abkehr von fragmentierten, manuellen Arbeitsabläufen hin zu integrierten Ökosystemen, in denen Instrumente miteinander kommunizieren, Daten nahtlos und ohne erneute Eingabe fliessen und Compliance in die alltäglichen Prozesse eingebettet ist - und nicht nachträglich hinzugefügt wird.

Das Konzept baut auf Industrie 4.0 Prinzipien wie Automatisierung, Kompatibilität und Echtzeitdaten auf, passt diese jedoch an die einzigartige Komplexität der Life Science-Umgebung an. Das Ziel? Weniger Silos, weniger manuelle Schritte und schnellere, bessere Entscheidungen in der gesamten Laborumgebung.

Bei einem Blick in die fernere Zukunft werden bereits Elemente der Industrie 5.0 relevant. KI, maschinelles Lernen und prädiktive Analysen werden zur Erkennung von Anomalien, Optimierung der Ressourcenplanung und zur frühzeitigen Erkennung von Qualitätsproblemen eingesetzt, wodurch Erkenntnisse in proaktive Massnahmen übersetzt werden. Diese Tools sind keine futuristischen Add-ons - in zukunftsorientierten Laboren tragen sie bereits die ersten Früchte.

Doch die Umsetzung dieser Vision in die Realität verläuft selten reibungslos. Viele Labore arbeiten mit veralteter Infrastruktur, komplexen Validierungsanforderungen und stark manuell geprägten Routinen, die sich aufgrund von Compliance-Anforderungen entwickelt haben. In der Praxis treffen kühne digitale Initiativen oft auf Irritationen bei Arbeitsabläufen in der echten Welt - und das Ergebnis ist bekannt: grosse Ambitionen, langsame Umsetzung.

Lab 4.0 bleibt eine starke und relevante Vision. Aber Erfolg kann sich erst einstellen, wenn man sich zuerst mit dem aktuellen Zustand auseinandersetzt - mit den Silos, den ​​Prozess-Schulden und dem menschlichen Fachwissen, das die Dinge am Laufen hält. Darin liegt der Unterschied, digital zu arbeiten und digital zu sein.

Der wahre Ausgangspunkt: Stift, Papier und Prozess-Schulden

Um zu verstehen, wo die meisten Projekte beginnen, müssen wir uns die Realität der Laborarbeit einmal genauer ansehen. Die Herausforderung in Life Science-Laboren liegt nicht in einem Mangel an Visionen. Es sind die Altlasten aus gewachsenen Prozessen, die oftmals für die Einhaltung von Vorschriften geschaffen und dann von den Labor-Teams aufrechterhalten wurden. Diese haben die wachsende Komplexität mit sorgfältiger Koordination und stiller Kompetenz bewältigt.

Labore haben sich organisch entwickelt: mehr Instrumente, mehr Daten, mehr Dokumentation, aber selten mehr Integration. Einige Geräte sind zwar auf dem neuesten Stand der Technik, werden aber nie vollständig integriert, weil die Beschaffung vor (oder ohne) Ausrichtung an der IT erfolgt.

Das Ergebnis? Moderne Tools schaffen neue Silos, statt alte zu lösen - und die digitale Transformation stösst schnell auf ein Netz von Abhängigkeiten und veralteter Logik.

Hier sind häufige Probleme, die wir wiederholt in Laborumgebungen beobachten:

  • Unverbundene Tools schaffen Datensilos und Integrationshürden
  • Jedes Labor arbeitet nach seinem eigenen Schema, mit unterschiedlichen Formaten, Protokollen und Tools, selbst innerhalb desselben Unternehmens
  • Daten müssen mehrfach neu eingegeben werden, oft manuell, über verschiedene Plattformen hinweg
  • Prozesse sind komplex und ineffizient, nicht absichtlich, sondern aus der Notwendigkeit heraus
  • Veränderung wird abgelehnt - nicht aus Widerwillen, sondern aufgrund der Belastung durch erneute Validierung
  • Bei kritischen Pfaden bestehen weiterhin papierbasierte Arbeitsabläufe und erfordern immer noch handschriftliche Unterschriften, physische Archivierung oder mehrstufige Genehmigungen

Branchenberichten zufolge ist nur ein kleiner Teil der Biopharma- und MedTech-Unternehmen – etwa 20 % – über vereinzelte digitale Initiativen hinausgekommen und hat einen Zustand echter digitaler Reife erreicht. Der Rest verharrt dabei “digital zu arbeiten" und experimentiert mit Tools und Pilotprojekten, ohne die Einsatzmöglichkeiten in die Kernprozesse einzubinden.

Diese Diskrepanz wird besonders in Laboren deutlich. Ihre Komplexität, der regulatorische Druck und die Validierungsanforderungen machen es besonders schwierig, sie mit schnellen Lösungen umzugestalten. Das Problem ist nicht die Ambition, sondern die Kluft zwischen der Vision und der betrieblichen Realität.

​​Delivery Excellence bedeutet Verstehen vor der Installation

Eine Erkenntnis zieht sich wie ein roter Faden durch erfolgreiche Projekte: Man kann nicht automatisieren, was man nicht versteht.

Und in Laboren geht das Verständnis über Diagramme hinaus - es bedeutet, dass man den Labormitarbeitenden, Qualitätsmanager:innen und Ingenieur:innen zuhört, die das System trotz seiner Einschränkungen am Laufen halten.

Bei adesso nennen wir das Delivery Excellence. Und es beginnt so:

  • Unsichtbare Arbeit sichtbar machen
  • Ein gemeinsames Verständnis zwischen Laborpersonal, QS, IT und Architekten schaffen
  • Compliance-Vorgaben einhalten, ohne sie als Ausrede zu benutzen
  • Brücken zwischen Teams bauen, die vorher vielleicht nicht eng zusammengearbeitet haben

Einer der am meisten unterschätzten Schritte: Zuhören. Aufzeichnen, was tatsächlich passiert, und nicht, was in den SOPs steht. Es hat sich herausgestellt, dass die Realität selten dokumentiert wird.

Das bedeutet auch, dass wir nicht vor dem Chaos zurückschrecken. Wir untersuchen es, zeichnen es auf und beginnen erst dann, es aufzuräumen. Man konfiguriert den Kontext eines Labors nicht - man deckt ihn auf.

​​Software kaufen ≠ ein Problem lösen​

Eine häufig gestellte Frage zu Beginn von Lab 4.0-Projekten lautet:

"Welches System sollten wir implementieren?"

Eine bessere und viel wichtigere Frage wäre:

"Was ist das eigentliche Problem, das wir lösen wollen?"

Es ist verlockend, zu einer sofortigen Lösung zu greifen: eine Vorauswahl der Anbieter treffen, Demos durchführen, Funktionen bewerten. Dies kann jedoch zu Plattformen führen, die nicht wirklich passen, oder, schlimmer noch, die neue Komplexität mit sich bringen. Oftmals ist eine schlanke, massgeschneiderte Lösung, die auf die tatsächlichen Arbeitsabläufe und gesetzlichen Anforderungen abgestimmt ist, von grösserem Nutzen als ein grosses, starres System.

Projekte, die an Schwung verlieren, haben fast immer die Phase der Problemdefinition übersprungen. Doch genau hier liegen die wahren Chancen - vor allem in Hybrid-Laboren, in denen sowohl moderne als auch alte Tools genutzt werden.

Die Lösung dieser Herausforderungen ist nicht nur eine technische, sondern auch eine organisatorische Angelegenheit. Sie erfordert funktionsübergreifende Klarheit, realistische Kompromisse und ehrliche Gespräche darüber, was geändert werden sollte und was beibehalten werden muss.

Dr. Lars Schmiedeberg, Leiter von Life Sciences Schweiz, drückt es folgendermassen aus:

"Lab 4.0 beginnt nicht mit Systemen, sondern mit strategischer Klarheit in Bezug auf Daten, Qualität, Fähigkeiten, Menschen und Prozesse."

Wo Lab 4.0 anfängt zu funktionieren: Fähigkeiten wichtiger als Produktkataloge

Lab 4.0 wird nicht gekauft - es wird gebaut. Man kann es nicht über Nacht installieren oder outsourcen. Es muss von innen heraus geschaffen werden.

Wir von adesso unterstützen Life Science-Unternehmen dabei, sich auf das zu konzentrieren, was nötig ist, um den digitalen Wandel nachhaltig und rechtssicher zu gestalten - und dabei die realen Bedürfnisse der Labore nicht aus den Augen zu verlieren.

Wir konzentrieren uns auf Fähigkeiten wie:

  • Standardisierung, wo es sinnvoll ist, unter Beibehaltung notwendiger Variationen
  • Abstimmen von Prozessen vor der Verbindung von Systemen
  • Denken in Plattformen und Datenflüssen, nicht nur in Produkten
  • Skalieren von Validierung und Governance zusammen mit der Tool-Landschaft

Bei den besten Projekten, die wir gesehen haben, ging es nicht um die Frage: "Welches LIMS sollen wir kaufen?"

Sondern vielmehr:

  • "Wo können wir durch Automatisierung die größte Wirkung erzielen?"
  • "Welche Teams sind bereit für die Standardisierung und welche brauchen mehr Zeit?"
  • "Brauchen wir wirklich eine vollständige Suite oder nur eine leichtgewichtige, programmierfreundliche Lösung für den Anfang?"

Lab 4.0 ist keine Anschaffung. Es ist ein Prozess. Es wird schrittweise mit den Menschen entwickelt, die das Labor am besten kennen - und immer mit Blick auf die langfristige Belastbarkeit.

Der Vorteil?

  • Geringerer manueller Aufwand und weniger Fehler
  • Transparentere und konsistentere Daten
  • Schnellere Entscheidungsfindung und schnellerer Labor-Durchsatz
  • Skalierbare, prüfungssichere Prozesse
  • Verbesserte rollen- und abteilungsübergreifende Zusammenarbeit

Fazit

Lab 4.0 beginnt lange bevor ein System in Betrieb genommen wird. Zu Beginn muss man verstehen, wie Labore wirklich arbeiten: wie Informationen fliessen (oder nicht), wo es Reibungspunkte gibt und was Laborteams wirklich brauchen.

Bei einer echten digitalen Transformation geht es nicht um Tools, sondern darum, bessere Entscheidungen und einen nachhaltigen Betrieb zu ermöglichen.

Bei adesso beginnen wir mit den richtigen Fragen - nicht dem Produktkatalog.

Hier sind fünf wichtige Fragen, die Sie sich stellen sollten, bevor Sie mit Lab 4.0 starten:

1. Was passiert wirklich im Labor jenseits der SOPs?

2. Wo treten manuelle Abhilfen und Ineffizienz auf?

3. Welche Probleme lösen wir tatsächlich?

4. Wer sind die Hauptakteure, die die Dinge zum Laufen bringen und wie?

5. Wie können wir intelligenter und früher validieren?

Sie sind neugierig, wie das Lab 4.0 für Ihr Unternehmen aussehen könnte? Lassen Sie uns gemeinsam einen Blick darauf werfen.

Möchten Sie tiefer einsteigen? Lesen Sie unseren begleitenden Blog-Beitrag: Was ist Lab 4.0?

Bild Rebecca Brogli

Autorin Dr. Rebecca Brogli

Dr. Rebecca Brogli ist Consultant bei adesso und spezialisiert auf Life Sciences und Labordigitalisierung. Mit ihrem Background in Biochemie und ihrer Erfahrung in Laborautomatisierung und IT-Integration hilft sie Kund:innen, die Komplexität zu durchbrechen und echte Ergebnisse zu erzielen. Ihr Schwerpunkt: die Umsetzung von Lab 4.0-Ambitionen in die tägliche Laborroutine - mit Klarheit, nicht Chaos.

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Schlagwörter:

Life Science