16. Januar 2023 von Zeljko Grgic
Agile versus nicht-iterative Vorgehensmodelle: Hürden der Versicherer im Kontext von Agilität
Agilität ist heute kein Fremdwort mehr. Versicherer müssen auch heute schon flexibel agieren und sich an die schnell ändernden Anforderungen von Kundinnen und Kunden sowie des Marktes anpassen. Gerade digitale Markt-Player stellen die klassischen Geschäftsmodelle der Versicherer in Frage. Steigender Innovationsdruck, neue Wettbewerber und nicht zuletzt die Covid-19-Pandemie führten dazu, dass das Verlangen nach agiler Transformation und der Einführung agiler Methodik auch bei traditionellen Versicherern immer größer wird.
Im Projektgeschäft hat der Wunsch nach Agilität heute bei einer Vielzahl von Unternehmen oberste Priorität und wird seitens des Managements gefordert. Agile Frameworks wie SAFe, Scrum oder LeSS sollen Versicherer bei der Umsetzung von Projekten unterstützen.
Doch welche Hürden treten auf, wenn zwei augenscheinliche Welten, also Agilität und altbewährte Geschäftsmodelle der Versicherungsunternehmen, aufeinandertreffen?
Im Vergleich zu den meisten Start-ups sind Versicherer hinsichtlich ihrer Organisation stark hierarchisch aufgebaut. Die Versicherungsbranche ist geprägt von Silostrukturen, ausgelagerter IT und fachlicher Spezialisierung, die nicht zuletzt durch die Spartentrennung gefordert wird. Das Ziel bei agilen Herangehensweisen ist es, sich genau von diesem strengen Aufbau abzuwenden und Linienorganisationen zu unterbrechen, um mittels Interdisziplinarität und bereichsübergreifender Zusammenarbeit maximale Mehrwerte aus einer Vernetzung zu erzielen. Nur durch Integration aller Beteiligten lassen sich Barrieren frühzeitig aufdecken und Ziele effektiv erreichen.
Blickt man eine Ebene tiefer auf den Produktentwicklungsprozess (PEP) der Versicherer, so ist auch dieser sehr klassisch und gestaffelt angeordnet. Lineare und nichtiterative Vorgehensmodelle – etwa das Wasserfallmodell – haben sich jahrelang bewährt. Durch die strikte Durchführung aufeinanderfolgender Projektphasen ermöglichen nichtiterative Vorgehensmodelle eine hohe Planungssicherheit, was in der stark regulierten Versicherungsbranche durchaus gewünscht ist. Allerdings sind solche Modelle aufgrund ihrer fehlenden Flexibilität, insbesondere durch das Risiko des späten Erkennens von Umsetzungsfehlern sowie dem starren Änderungsprozess bei Anpassungen, in der heutigen Zeit des Innovationsdrucks nicht mehr wirklich zeitgemäß. Lange Spezifikationsprozesse nehmen erhebliche Ressourcen ein und überdauern teilweise mehrere Quartale. Themen wie Spezifikation und Dokumentation haben gerade in einer so stark regulatorisch überwachten Branche wie der der Versicherer Überhand. Zwischen Regulatorik beziehungsweise planerischer Sicherheit und agilen Modellen, die schon mal auf vollständige Dokumentationen verzichten können, scheinen Welten zu liegen.
Die Praxis: Hybride Modelle
Heute trifft man oft auf hybride Vorgehensweisen, die klassische PEP-Prozesse (insbesondere in der Konzeption) und eine agile Umsetzung zu verbinden versuchen, was in der Praxis zu großen Fehlallokationen von Ressourcen und Anforderungsverfehlungen führen kann. Die Fach- und Produktkonzeption wird beispielsweise im klassischen PEP-Prozess häufig sehr spät und meistens erst nach begonnener Entwicklungsumsetzung qualitätsgesichert. So kann ein früher Entwicklungsstart ohne vorherige Fertigstellung einer vollständigen Anforderungskonzeption zu unvollständigen und fehlerhaften Umsetzungen von Fachanforderungen führen, was wiederum erhebliche Ressourcen der Korrektur kostet. Ebenso kann auch eine Planung und Beschreibung von User Stories im agilen Kontext zu einem sehr unreifen Stand der Fachanforderungen zu Missverständnissen führen. Aufgrund sehr kurzer Refinementphasen im agilen Entwicklungsprozess entsteht Zeitdruck seitens der Konzeption. Mögliche Risikoindikatoren und daraus resultierende Entscheidungen werden im schlimmsten Fall zu spät entdeckt und getroffen.
Das Ziel einer effektiveren Gestaltung von Produktentwicklungsprozessen
Die gesamten Produktentwicklungsprozesse müssen agiler sein beziehungsweise unter Berücksichtigung von Agilität effektiver gestalten werden! Dabei genügt es nicht, ein Framework einfach einzusetzen und zu kommunizieren: „Wir arbeiten agil!“– die Agilität muss gelebt werden! Das bedeutet, dass alle, die am PEP beteiligt sind, in allen Phasen aktiv eingebunden werden und agil miteinander arbeiten. Auf lange Sicht gesehen bedeutet es also auch, Prinzipien und Wertvorstellungen der Agilität in die Unternehmenskultur aufzunehmen, um ein agiles Mindset zu erschaffen. Gerade in einer regulatorisch stark geprägten Branche, wie der der Versicherung, die aufgrund von Planungssicherheit auf altbewährte Vorgehensmodelle setzt, ist es wichtig, einen Ausgleich zwischen dem Mehrwert agiler PEPs und den Anforderungen nach Regulatorik und Sicherheit zu finden und beide Ansätze miteinander effektiv zu kombinieren. Planung und Umsetzung dürfen nicht zwischen agil und nichtiterativ differenziert werden, sondern müssen vielmehr unter Berücksichtigung des regulatorisch geforderten Maßes an Planung und Sicherheit in agile Vorgehensmodelle übernommen werden.